Konzeption
Die Zürcher Neuromotorik (Largo, Fischer, Caflisch & Jenni, 2007) zielt auf die Erfassung erfahrungsunabhängiger motorischer Basisfunktionen. Die Autoren kritisieren, dass die Beurteilung motorischer Leistungen sich vielfach auf “adaptive Aktivitäten” (Manual, S. 6) wie beispielsweise Ballfangen oder Hüpfen bezieht, diese jedoch grundsätzlich die Integration von Motorik und Wahrnehmung erfordern und zusätzlich in hohem Maße erfahrungs- und übungsabhängig sind. Zur selektiven Erfassung motorischer Basisleistungen werden darum
- die motorische Leistungsfähigkeit (Geschwindigkeitsleistungen) sowie
- die Bewegungsqualität (kontralaterale Mitbewegungen)
weitgehend erfahrungsunabhängig erhoben.
Der Testsatz enthält standardisiertes Material, das sich aus einem Steckbrett mit Steckern und Stiften, einem Standbrett mit Streifen, einem Stab sowie zwei Ständern und einem 8m langen Gummiseil zusammensetzt. Eine beigefügte CD enthält ein Auswertungsprogramm, die Testnormen sowie das Manual in elektronischer Form. Zusätzlich ist Material zur Bestimmung der Händigkeit (Stift, Zahnbürste, Schere) sowie eine Stoppuhr (Zehntelsekunden) zu besorgen.
Aufgaben
Die Zürcher Neuromotorik kann als
- klinische Version (im Normalfall) oder als
- wissenschaftliche Version
durchgeführt werden, wobei die wissenschaftliche Version für die komplexere Auswertung grundsätzlich eine Video-Aufzeichnung erfordert.
Das Verfahren umfasst folgende Testaufgaben:
- Repetitive Bewegungen der Finger, Hände und Füße;
- Alternierende Bewegungen der Hände und Füße, Diadochokinese;
- Sequentielle Bewegungen der Finger;
- Steckbrett;
- Statische Balance (Einbeinstand);
- Dynamische Balance (Sprünge);
- Stressgaits (Zehen-, Fersen-, O-Bein- und X-Bein-Gang).
Die Aufgaben werden in Abhängigkeit vom Alter des Kindes in leichten Variationen durchgeführt.
Neben den Einzelaufgaben bietet die Zürcher Neuromotorik dem Untersucher dabei Indizes an, die durch eine speziell entwickelte statistische Methode (Simple Component Analysis; Rousson & Gasser, 2004) in Anlehnung an eine Hauptkomponenten-Analyse (vgl. a. Faktorenanalyse) empirisch-statistisch abgeleitet wurden. Hierbei werden die Einzelaufgaben zu folgenden übergeordneten motorischen Leistungskomplexen (”Komponenten”) gebündelt:
1. Komponenten der Zeit
1.1 Blockkomponenten
- Summe rein motorischer Aufgaben;
- Adaptive feinmotorische Aufgaben;
- Adaptive grobmotorische Aufgaben;
- Gleichgewicht.
1.2 Differenzkomponenten
- Einfache vs. komplexe Bewegungen;
- Obere vs. untere Extremitäten;
- Dominante vs. nichtdominante Seite bei rein motorischen Aufgaben;
- Dominante vs. nichtdominante Seite bei adaptiver Leistung.
2. Komponenten der Mitbewegungen
2.1 Blockkomponente
- Summe aller Mitbewegungen sämtlicher Aufgaben.
2.2 Differenzkomponenten
- Rein motorische vs. adaptive Aufgaben;
- Rein motorische und adaptive Aufgaben vs. Haltung;
- Obere vs. untere Extremitäten;
- Dominante vs. nichtdominante Seite bei rein motorischen Aufgaben;
- Dominante vs. nichtdominante Seite bei adaptiver Leistung.
Durchführung
Vor jeder Untersuchung sind einheitliche Bedingungen für die Kinder herzustellen, was sich auf die Räumlichkeiten, das Mobiliar sowie die Bekleidung des Kindes bezieht. Die Aufgaben werden in Abhängigkeit vom Alter des Kindes leicht variiert. Alle Aufgaben werden sowohl mit der dominanten als auch der nichtdominanten Körperseite durchgeführt. Im Normalfall werden bei jeder Aufgabe
- die Zeit gemessen und
- die Bewegungsqualität eingeschätzt,
lediglich bei der Diadochokinese und den Stressgaits wird ausschließlich die Bewegungsqualität erfasst, bei der statischen und dynamischen Balance erfolgt ausschließlich die Zeitmessung. Das Manual enthält sehr detaillierte Anleitungen zur standardisierten Durchführung der Aufgaben, beispielsweise zur Sitzposition, Körperhaltung oder zu Übungsdurchgängen. Die Protokollierung kann wahlweise auf einem ausgedruckten Untersuchungsblatt vorgenommen oder bereits während der Untersuchung direkt in das Eingabefenster des Auswertungsprogramms eingegeben werden.
Auswertung
Die Auswertung erfolgt unmittelbar durch das Auswertungsprogramm, wodurch Übertragungsfehler beim Ablesen von Normentabellen ausgeschlossen werden. Das Programm ist in der Lage, fehlende Untersuchungen (beispielsweise bei Hemiparese oder mangelnder Kooperation) durch geschätzte Werte zu substituieren, so dass auch in diesen Fällen die Komponentenwerte berechnet werden können.
Das Handbuch enthält viele Übersichtsgrafiken, die den Altersverlauf (Median, 3., 10., 25., 75., 90. und 97. Perzentile) der Untertest-Leistungen, geschlechtsspezifische Unterschiede sowie klinisch bedeutsame Zusammenhänge zwischen ausgewählten Testleistungen grafisch darstellen.
Interpretation
Das Auswertungsprogramm ermöglicht für jedes Untertest-Ergebnis sowie für die Komponentenwerte eine präzise Orientierung an Z-Werten (0;1) und eine grobe (grafische) Einschätzung der dazugehörigen Perzentilwerte, sowohl für die Zeiten als auch für die kontralateralen Mitbewegungen. Dabei werden die Ergebnisse der jeweils dominanten und nichtdominanten Seite gegenübergestellt.
Zehn Fallbeispiele klinisch unauffälliger und klinisch auffälliger Kinder schulen die Beurteilungssicherheit des Anwenders und liefern Hinweise zur Diagnostik und Indikationsstellung anhand charakteristischer Leistungsprofile.
Normierung
Die Normen wurden querschnittlich an 662 Kindern und Jugendlichen erhoben, die überwiegend aus der Region Zürich stammten und deren Familien der Mittelschicht zuzurechnen waren. Der sozioökonomische Status (bestimmt nach Ausbildung und Beruf von Mutter und Vater) war im Durchschnitt über dem gesamt-schweizer Mittel angesiedelt.
Für die Normdaten wurden die Ergebnisse der rechtshändigen Kinder (91,5% der Gesamtstichprobe) herangezogen.
Gütekriterien
Die Durchführungsobjektivität wird durch ein hohes Maß an Standardisierung gewährleistet, zusätzlich appelliert das Manual eindringlich an die Ausbildung der Untersucher über die Handbuch-Instruktionen hinaus (S. 13). Das kritische Moment der Dateneingabe in die Computer-Datenmaske wird nicht diskutiert.
Auch die Auswertungsobjektivität ist in hohem Maße vom Schulungsstand des Untersuchers abhängig. Anders als bei anderen Testverfahren, bei denen die Auswertungsobjektivität oft bloß postuliert wird, dokumentiert das Handbuch hierzu Angaben zur Intrarater-Reliabilität und Interrater-Reliabilität. Die Intrarater-Reliabilität wurde anhand eines Beobachters bei 30 Kindern überprüft und bewegt sich für die Untertests zwischen .56 und 1.00 mit einer Häufung der Werte im Wertebereich oberhalb von .90 für die Zeitkomponenten, etwas geringer fallen die Werte für die Mitbewegungen aus, die zwischen .53 und .90 liegen und sich im Wertebereich um .80 häufen. Die Interrater-Reliabilität wurde anhand von zwei Beobachtern bei wiederum 30 Kindern überprüft und bewegt sich für die Untertests im Wertebereich zwischen .32 und .99, wiederum jedoch mit einer Häufung der Werte oberhalb von .90 für die Zeitkomponenten sowie im Wertebereich zwischen .44 und .82. mit einer Häufung um .70 für die Mitbewegungen.
Die Interpretationsobjektivität kann aufgrund der Z-Werte und Perzentilwerte als gesichert gelten.
Zur Dokumentation der Reliabilität (vgl. a. Rousson, Gasser, Caflish & Largo, 2008) wurde die Retest-Reliabilität anhand von 56 Kindern ermittelt, die innerhalb von zwei Wochen nachuntersucht wurden (1 Untersucher). Die Werte liegen für die Untertests in Bezug auf die Zeitmessungen im Bereich zwischen .38 und .89 mit einer Häufung der Werte zwischen .65 und .80 und für die Mitbewegungen im Bereich zwischen .20 und .65 mit einer Häufung der Werte im Bereich zwischen .40 und .55.
Die Retest-Reliabilität für die Indizes (Komponenten) fällt aufgrund der größeren Testlänge erwartungskonform höher aus und variiert über den Wertebereich zwischen .40 und .91.
Das Verfahren ist inhaltsvalide. Die empirischen Angaben zur Validität im Manual beziehen sich auf die Screening-Kriterien Sensitivität und Spezifität: “Die Frage, die an eine neuromotorische Untersuchung zu stellen ist, lautet: Kann die Untersuchung Kinder, die im Alltag durch eine motorische Ungeschicklichkeit beeinträchtigt werden, als auffällig identifizieren sowie unauffällige Kinder als solche erfassen?” (Manual, S. 21). Sowohl die Sensitivität als auch die Spezifität (nicht näher spezifiziertes 10.-Perzentile-Kriterium) in Bezug auf Kinder, bei denen eine motorische Ungeschicklichkeit zu einer pädagogischen oder medizinischen Intervention geführt hatte, betrug jeweils 93%.
Eine Studie zu Kindern mit sehr niedrigem Geburtsgewicht (<1250g) lieferte erwartungskonforme Ergebnisse: Die “Summe rein motorischer Aufgaben” sowie die “Summe aller Mitbewegungen sämtlicher Aufgaben” (s.o.: Komponenten) fielen hochsignifikant geringer (p<.001) aus als der Altersdurchschnitt. Von weiteren Studien mit spezifischen Risikogruppen wird berichtet.
Kritik
Die Zürcher Neuromotorik bildet in umfassender Weise motorische Basis-Leistungen von Kindern und Jugendlichen ab. Das Verfahren orientiert sich unmittelbar an empirisch fundierten, validen neurologischen Symptomen und unterstützt somit in Abgrenzung zu anderen Motoriktests vielfach bereits bei gering ausgeprägten Teilsymptomen eine differenzierte entwicklungsneurologische Befunderstellung.
Die auf den ersten Blick nicht voll zufrieden stellenden Reliabilitäts-Kennwerte beziehen sich ausschließlich auf die Retest-Reliabilität und werden durch den Vergleich mit anderen Motoriktests positiv relativiert: Bei den zu erwartenden Leistungsschwankungen von insbesondere Kindern, aber auch Jugendlichen in verschiedenen Situationen erscheinen die Angaben im Manual als seriös und das Potenzial eines solchen Verfahrens gut ausgeschöpft. Die Tatsache, dass es sich bei den Kindern, welche zur Reliabilitäts-Berechnung herangezogen wurden, offenbar um unauffällige Kinder handelte, bei denen von deutlich geringerer Leistungsstabilität auszugehen ist als bei neurologisch deutlich beeinträchtigten Kindern, stützt zusätzlich die Messgenauigkeit des Verfahrens.
Es bleibt zu wünschen, dass weitere Studien zur kriterienbezogenen Validität es dem Anwender zukünftig ermöglichen, die Aussagemöglichkeiten des Verfahrens noch besser einzuschätzen. Außerdem wäre eine Normierung über den gesamten deutschen Sprachraum über weiter gefasste soziale Gruppen wünschenswert.
Insgesamt liegt mit der Zürcher Neuromotorik jedoch ein Inventar vor, dem aufgrund seiner spezifischen Merkmale eine einzigartige Stellung unter den Motoriktests zukommt.
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