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Entwicklungstest

Entwicklungsdiagnostik: Zielsetzungen

 

 

Zusammenfassung. Diese Seite fasst historische und aktuelle Überlegungen zur Entwicklungsdiagnostik zusammen und berücksichtigt theoretische Annahmen und empirische Befunde zu normaler und abweichender Entwicklung. Es werden aktuelle deutschsprachige Entwicklungstests bezüglich ihrer Konstruktionsmerkmale und Aussagemöglichkeiten global bewertet sowie mögliche Anwendungsbereiche diskutiert. Abschließend werden Empfehlungen für die Testkonstruktion sowie den Einsatz von Entwicklungstests formuliert.

Abstract. This page gives a summary of previous and most recent thought on developmental assessment with special consideration of theoretical reasoning and empirical results on normal and deviant development. Furthermore, recent german-language developmental tests are evaluated as regards their unique features in form and content and as well as their scope of application. Recommendations on construction and usage of such tests are suggested.

 

Einleitung

Bei normalen Entwicklungsverläufen kann man von beträchtlicher Variabilität ausgehen. Verschiedene Kinder können sich innerhalb eines breiten Spektrums bewegen und sich somit auf deutlich voneinander abweichende Art und Weise normal entwickeln. Konsequenterweise findet deshalb auch in der modernen Entwicklungsdiagnostik eine Abkehr von traditionellen Reifungskonzepten statt: Entwicklung ist etwas qualitativ von Reifung Verschiedenes, die Gene und damit die Stadien der Hirnreifung und die allgemeine Organisation des Zentralnervensystems prädisponieren den Rahmen möglicher Entwicklungsverläufe, die tatsächliche Entwicklung jedoch wird vielfältig von psychologischen Wechselwirkungen geprägt. Entwicklung beschreibt somit ein Geschehen, dessen Vielfältigkeit die Mannigfaltigkeit moderner Lebenswelten widerspiegelt. Die Grenzziehung zwischen Normalität und Abweichung ist dabei abhängig von Vorannahmen, Bewertungen empirischer Gegebenheiten und nicht zuletzt von Erfordernissen des Gesundheitssystems.
Gerade im Zusammenhang mit gesundheitsbezogenen Versorgungsleistungen werden dabei zunehmend Bemühungen um die Etablierung qualitativer Standards unternommen, die sich im Rahmen der Entwicklungsdiagnostik besonders auf die Testgüte richten. Die Bewertung von Testverfahren muss anhand von Gütekriterien erfolgen und den Anwendungskontext angemessen berücksichtigen.

 

Entwicklungsabweichungen

Abweichende Entwicklungen lassen sich sowohl qualitativ als auch quantitativ beschreiben. Qualitative Entwicklungsbeschreibungen orientieren sich dabei an typischen Mustern von Leistungs- und Verhaltensmerkmalen, wie sie zum Beispiel im Rahmen der Klassifikationssysteme psychischer Störungen als eigenständige Störungsbilder beschrieben sind (WHO, 1993; APA, 1994). Eine besondere Gruppe unter den psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters bilden dabei die Entwicklungsstörungen nach ICD 10 (F8) beziehungsweise deren Äquivalente im DSM-IV (Störungen, die gewöhnlich zuerst im Kleinkindalter, in der Kindheit oder Adoleszenz diagnostiziert werden). Beide Klassifikationssysteme bilden jedoch den Zielbereich der entwicklungsbezogenen Diagnostik nicht erschöpfend ab. In der Früh- und Heilpädagogik bieten Konzepte wie zum Beispiel das der sensorischen Integration (Ayres, 2002; Müller, 2003) Orientierungspunkte an, die weniger psychiatrische Diagnosen als den förderbezogenen Handlungsrahmen fokussieren. Besonders in der neuropsychologischen Diagnostik findet sich Konzepte zu umschriebenen oder globalen funktionellen Beeinträchtigungen (Teilleistungsstörungen), die aufgrund ihrer vielfältigen Äußerungsformen zunächst keine unmittelbare Entsprechung in den gängigen Klassifikationssystemen finden. In der Abkehr von unspezifischen Diagnosen (z.B. Minimale cerebrale Dysfunktion; Hirnorganisches Psychosyndrom) beziehen sich Diagnosen heute vielfach auf identifizierbare und neuropsychologisch beschreibbare Funktionen (vgl. Heubrock & Petermann, 2000).

 

Allgemein-orientierende Diagnostik

Bei der Erstellung einer Eingangsdiagnose ist eine quantitative Entwicklungsbeschreibung bedeutsam. So werden erzielte Testergebnisse mit Normen in Beziehung gesetzt und prägnante Leistungsabweichungen oder Abweichungsmuster entwicklungsbezogen interpretiert. Ob die Leistungsabweichungen im Test auch tatsächlich als Entwicklungsabweichungen interpretiert werden dürfen, ist vielfach fraglich (vgl. Peterander, 2003).
Bei entwicklungsbezogenen Interpretationen von Leistungsdaten sind zwei Sichtweisen möglich:

  • Die zu einem bestimmten Zeitpunkt erfasste Leistung wird retrospektiv als Entwicklungsergebnis aufgefasst - was in der klinischen Praxis häufig mit einer defizitorientierten Fragestellung einhergeht.
  • Der Leistungsstatus wird prospektiv als aktuelle Beschreibung der Ausgangsbedingungen für die weitere Entwicklung aufgefasst – in der Regel kommt dann den Ressourcen eine größere Bedeutung zu.
     

Beide Sichtweisen setzen voraus, dass die mit einem Test überprüften Merkmale tatsächlich einen gewissen Beschreibungswert besitzen. Auch hier ist es denkbar, dass ein eher quantitativer Bezug

  • ist ein überprüftes Merkmal in seiner quantitativen Ausprägung altersgemäß ausgebildet (z.B. wurde ein durchschnittlicher Motorikwert erreicht?)
     

oder ein eher qualitativer Bezug

  • deutet die Ausbildung eines bestimmten Merkmals aktuell auf das Durchlaufen eines qualitativ beschreibbaren Entwicklungsstadiums (z.B. kann ein Kind schon frei gehen?)
     

gegeben ist. Im Prinzip spiegelt dieser Unterschied den Charakter eines Testverfahrens als

  • “echten” Entwicklungstest oder als
  • “bedingt” zur Entwicklungsbeschreibung geeignetes Verfahren.
     

So kann ein Leistungstest Informationen liefern, ob ein Kind im Sinne bevorstehender Entwicklungsaufgaben bestimmte Leistungen überhaupt erbringen kann, oder ob Leistungen, die in seinem Lebensabschnitt bereits zu erwarten sind, in ihrer quantitativen Ausprägung Hinweise auf Fortschritte in der Organisation, Differenzierung und Integration sowie Konsolidierung geben.

 

Klassifikation von Testverfahren

Zur Entwicklungsdiagnostik liegen verschiedene Verfahren mit deutlich voneinander abweichenden Zielsetzungen und Gültigkeitsbereichen vor. Dabei verstehen sich prinzipiell nicht alle der aufgeführten Verfahren primär als Entwicklungstests, aber alle damit erzielten Ergebnisse lassen sich - teilweise mit Hintergrundwissen - entwicklungsbezogen interpretieren.
Im Bereich der allgemeinen Entwicklungsdiagnostik wird grundsätzlich ein breiter Aussagebereich ins Auge gefasst, während spezifische Entwicklungstests einen umschriebenen Bereich differenziert erfassen möchten. Dabei beziehen sich alle aktuellen und historisch bedeutsamen allgemeinen Entwicklungstests mehr oder weniger auf eine Auswahl ähnlicher Entwicklungsbereiche (vgl. auch Meisels & Atkins-Burnett, 2000):

  • Körpermotorik (Grobmotorik),
  • Handmotorik (Feinmotorik, Auge-Hand-Koordination),
  • Wahrnehmung,
  • Lernen und Gedächtnis,
  • kognitive Entwicklung,
  • Sprachentwicklung,
  • Sozialentwicklung,
  • emotionale Entwicklung und in Ergänzung vielfach den
  • adaptiven Bereich (lebenspraktische Fertigkeiten wie Nahrungsaufnahme, Hygiene, Kleidung, Umgang mit Alltagsgegenständen).
     

Im Rahmen der allgemein-orientierenden Diagnostik werden Entwicklungsscreenings eingesetzt, das heißt Kurztestverfahren (Durchführungsdauer ca. 10-20 Min.), die in grundlegenden Entwicklungsbereichen den Entwicklungsstand als auffällig oder unauffällig klassifizieren. Dabei werden für die untersuchten Bereiche Leistungsgrenzwerte (Cut-Off-Werte) festgelegt, deren Unterschreitung als auffällig bewertet wird. Diese Cut-Off-Werte leiten sich im Allgemeinen aus dem unteren Rand der Leistungsverteilung einer Stichprobe ab (z.B. 5., 10., 20. Perzentil) und liefern Hinweise darauf, ob eine Entwicklungsabweichung vorliegt. Im Rahmen von Screenings ist es aus ökonomischen Erwägungen häufig sinnvoll, weitere Informationsquellen (Eltern, Erzieher) mit einzubeziehen (vgl. Tröster, Flender & Reineke, 2004, 2005). Werden prägnante Verhaltensweisen erfragt, sind auch auf diesem Weg zuverlässige Entwicklungsaussagen möglich.
Differenzierte Informationen liefern allgemeine Entwicklungstests, die in aller Regel eine Profildarstellung über verschiedene Leistungsbereiche (s.o.) vornehmen und präzisere quantitative Aussagen durch differenzierte Kategorien (z.B. weit unterdurchschnittlich, unterdurchschnittlich, durchschnittlich) ermöglichen. Hierzu ist ein erhöhter Untersuchungsaufwand (Durchführungsdauer je nach Alter zwischen 30 und 90 Minuten) notwendig.
Spezifische Entwicklungstests wollen umschriebene Leistungsbereiche zuverlässig erfassen. Solche Verfahren zielen entweder auf bestimmte Entwicklungsbereiche oder auf die Erfassung von Entwicklungsstörungen und deren Vorläuferstörungen, die mit dem Erwerb schulischer Fertigkeiten verbunden sind.

 

Ergebniswerte von Entwicklungstests

Die verschiedenen Verfahren halten unterschiedliche Ergebniswerte bereit, die unterschiedliche Aussagen ermöglichen. Im Unterschied zu den Grenzwerten (Cut-Off-Werten) in Screeningtests, die regelmäßig an Perzentilwerten (z.B. 80., 90., 95. Perzentil) einer zu Grunde liegenden empirischen Verteilung (Normenstichprobe) orientiert sind, beziehen sich die allgemeinen Entwicklungstests überwiegend auf Standardskalen (Z-Skala, T-Skala, C-Skala). Bei Standardskalen bestehen Konventionen zur Interpretation eines Testwerts (s. hier). So lassen sich in einem ersten Schritt die erzielten Leistungen etwa als durchschnittlich, unterdurchschnittlich oder weit unterdurchschnittlich einordnen, ohne dass hieraus eine entwicklungsbezogene Aussage abzuleiten wäre. Dass ein Kind mit einer geistigen Behinderung sich - bei den gängigen Normalitätserwartungen - abweichend entwickelt hat, ist trivial. Ob aber diese Leistungen unter Berücksichtigung der Entwicklungsbedingungen (z.B. medizinische Risiken, umweltbezogene Faktoren) einen ungünstigen oder günstigen Status abbilden, kann aus den Resultaten der Leistungsdiagnostik allein nicht abgeleitet werden.

 

Problematische Ergebniswerte

Einen anderen Zugang wählen ältere, eher an Reifungsmodellen orientierte Tests (Stufenleiterverfahren, vgl. Petermann & Macha, 2003a). Diese Verfahren gliedern den anvisierten Altersbereich durch Aufgabenreihen mit steigender Schwierigkeit und ordnen jede der einzelnen Aufgaben einem Entwicklungsalter (EA) zu. Wenn ein Kind eine solche Stufenleiter bis zu einer bestimmten Aufgabe “erklimmt” und nachfolgende, schwierigere Aufgaben nicht mehr lösen kann, so wird die schwierigste noch gelöste Aufgabe zum Beurteilungsmaß für das aktuelle Entwicklungsalter. Leiten sich solche Stufenleitern nicht lediglich aus allgemeinen Beobachtungen ab (wie z.B. bei Kiphard, 2006; Hellbrügge, 1994, 2001), sondern liegen zusätzlich Altersnormen vor (z.B. ; Brandt & Sticker, 2001), so ist zu bedenken, dass sich die Angaben zu den Entwicklungsaltern auf große Gruppen von Kindern (Normierungsstichprobe) beziehen. Sie lassen als Durchschnittswerte wenig Aussagen darüber zu, in welchem Altersrahmen Kinder üblicherweise bestimmte Fertigkeiten ausbilden. Obwohl zum Beispiel 50% der Kinder einer Normenstichprobe das freie Gehen mit 13 Monaten erworben haben, erstreckt sich die unauffällige Entwicklung aber über den Altersbereich von etwa neun bis 17 Monaten! Ein Kind, das im Alter von 15 Monaten noch nicht frei geht und somit das Beurteilungskriterium für ein motorisches Entwicklungsalter von „13 Monaten“ verpasst hat, sollte also nicht vorschnell als retardiert beurteilt werden.
Weiter erklimmen viele Kinder in ihrer Entwicklung die Stufenfolgen nicht linear, sondern auch in der normalen Entwicklung sind Sprünge zwischen den Stufen keine Ausnahme. Dies führt dann zeitpunktbezogen zu Auslassungen, was wiederum je nach den formulierten Abbruchkriterien die Gefahr einer Unterschätzung des tatsächlichen Entwicklungsniveaus nach sich ziehen kann.
Nur für wenige Entwicklungsbereiche sind universelle Abfolgen beschrieben und empirisch bestätigt worden, so zum Beispiel für

  • das Erkundungsverhalten im Säuglingsalter (mundeln, hantieren, visuelle Exploration; vgl. Largo, 2001),
  • verschiedene Stadien der Greifentwicklung (vgl. Holle, 2005, S. 47 ff) oder
  • Knotenpunkte der Sprachentwicklung wie Spontanartikulation, Silbenverdopplungen und Zweiwortsprache (vgl. Michaelis & Niemann, 2004, S. 53f).
     

Aus den hiermit beschriebenen Schwierigkeiten bei der Anwendung von Entwicklungsaltern ist auch die Berechnung eines Entwicklungsquotienten (EQ) fraglich: Entwicklungsquotienten setzen das Entwicklungsalter zum Lebensalter in Beziehung und sind somit denselben inhaltlichen Problemen und Messungenauigkeiten unterworfen.

 

Objektivität und Reliabilität

Die meisten Testverfahren sind standardisiert, somit ist eine minimale Durchführungs- und Auswertungsobjektivität gegeben. Diese Verfahren setzen standardisierte Materialien in einem umschriebenen Setting mit meist standardisierten Instruktionen ein. Hiermit gelangen verschiedene Testleiter auch zu gleichen Testergebnissen. Empirische Studien zur Überprüfung der Durchführungs- und Auswertungsobjektivität werden in diesem Bereich jedoch nur selten vorgelegt (vgl. ausführlicher Petermann & Macha, 2005b).
Eine besondere Bedeutung kommt der Interpretationsobjektivität von Testresultaten zu. Entwicklungstests liefern einen Leistungsstatus, der objektiv eingeordnet werden kann. Die entwicklungsbezogene Interpretation ist jedoch häufig nur im Rahmen der Integration verschiedener Datenquellen (Beobachtungen, Anamnese) möglich. Dies kann dazu führen, dass das gleiche Entwicklungsprofil bei verschiedenen Kindern völlig unterschiedlich bewertet werden muss.
Unter verschiedenen Rahmenbedingungen kann ein bestimmter Leistungsstatus, zum Beispiel bei einem Kind mit einer Häufung körperlicher und psychosozialer Risiken, durchaus als Hinweis auf eine positive Entwicklung bewertet werden, während ein identisches Leistungsprofil bei einem Kind ohne besondere Entwicklungsrisiken eine weniger positive Bewertung erfährt. Wenn zum Beispiel ein Kind unterdurchschnittliche kognitive Leistungen zeigt, ist dies zunächst als Entwicklungsrisiko aufzufassen. Wenn ein anderes Kind aber die gleichen Leistungen unter erheblich ungünstigeren Entwicklungsbedingungen erbringt, und dies im Entwicklungsverlauf mit sogar steigender Leistungstendenz, dann kann daraus eine günstige Entwicklungsaussage abgeleitet werden.
Besondere Schwierigkeiten in Bezug auf die Reliabilitätsschätzung erwachsen für Entwicklungstests aus deren besonderen Konstruktionsmerkmalen im Zusammenspiel mit den jeweiligen methodischen Zugängen:

  • Die Retest-Reliabilität lässt sich für Entwicklungstests im Kindesalter schwierig erheben, weil überlagernde Wirkungen von Lerneffekten und Entwicklungsfortschritten prinzipiell eine höhere Testleistung zu einem späteren Messzeitpunkt erwarten lassen. Vergleichbare Testversionen zur Einschätzung der Paralleltest-Reliabilität liegen für Entwicklungstests im Allgemeinen nicht vor, auch der Aspekt der Splithalf-Reliabilität ist bei tendenziell heterogenen Skalen wenig aussagekräftig. Der Ausprägung und Aussagekraft der inneren Konsistenz ist wiederum abhängig von den erfassten Merkmalen.
  • Ist es überhaupt sinnvoll, homogene Skalen anzustreben (wie z.B. in Testbatterien wie dem Wiener Entwicklungstest), oder sollten unterschiedliche altersentsprechende Leistungen für einen Entwicklungsbereich nicht besser nur inventarisiert (so eher bei den Stufenleitern und Inventaren) werden? Je nach Testform kommen Konsistenzmaßen unterschiedliche Bedeutungen zu. So können geringe bis mittlere Skalenkonsistenzen sehr wohl mit den Vorannahmen eines Verfahrens im Einklang stehen und als Hinweis auf dessen Validität interpretiert werden.

 

Validität

Die besondere Komplexität von Entwicklungstests erfordert auch besondere Strategien der Validierung solcher Verfahren. Ungeachtet der Verschiedenheit in Bezug auf ihre Konstruktionsmerkmale kann allen etablierten Entwicklungstests zunächst einmal ein gewisses Maß an inhaltlicher Gültigkeit (augenscheinlicher Plausibilität) zugesprochen werden. Die Überprüfung der Konstruktvalidität ist wiederum stark abhängig von der Struktur und den Eigenschaften der vorliegenden Skalen. Alle etablierten Allgemeinen Entwicklungstests erfüllen das Postulat steigender Testleistungen mit dem Alter; dies zeigen in der Regel schon die publizierten Normen. Faktorenanalysen erfordern ein bestimmtes Skalenniveau und sind somit nicht für alle Testverfahren methodisch zulässig. Für den Wiener Entwicklungstest (WET; Kastner-Koller & Deimann, 2002) konnten sechs Faktoren gefunden werden, welche die Untertests in Ansätzen bestätigen, wobei die Autorinnen jedoch auch keine vollständige Unabhängigkeit der Untertest voraussetzten.
Angaben zur Differenzierungsfähigkeit in Bezug auf verschiedene klinische Risikostichproben (z.B. Frühgeborene oder Down-Syndrom) liegen zu allen etablierten Tests vor und fallen überwiegend erwartungskonform aus. Das Ausmaß, in dem ein Testverfahren in der Lage ist, im Gruppenvergleich solche Stichproben zu identifizieren, kann ohne große methodische Schwierigkeiten für alle Verfahren überprüft werden und stellt somit einen Grundpfeiler der Validierung von Entwicklungstests dar.
Differenziert kann der Aussagebereich von Entwicklungstests durch die kriterienbezogene Validität eingeschätzt werden. Statistische Zusammenhänge zwischen Testleistungen verschiedener Stichproben und den Ergebnissen anderer etablierter Leistungstests können dem erfahrenen Anwender ein Gespür für die Aussagemöglichkeiten eines Verfahrens vermitteln.

 

Aktualität von Normen

Besonders bedeutsam ist die Aktualität der Normen. Für Intelligenztestleistungen konnte eine mittlere Leistungszunahme über eine Dekade von ungefähr fünf IQ-Punkten dokumentiert werden (vgl. Flynn, 1987). Veraltete Normen überschätzen somit das kognitive Entwicklungsniveau, wodurch viele auffällige Kinder als unauffällig befundet werden. Für andere Entwicklungsbereiche, so zum Beispiel die Motorik oder die Sprache, sind gegenläufige Kohorteneffekte zu vermuten, wodurch veraltete Normen vermehrt zu falsch positiven Diagnosen führen.
Viele Testergebnisse hängen stark vom Sprachverständnis (Instruktionsverständnis) und der Sprachproduktion (z.B. es muss auf Fragen geantwortet werden) ab. Somit ist ein fairer Befund für eine große Anzahl isoliert sprachbeeinträchtigter Kinder nicht möglich. Hier empfiehlt es sich, auf sprachfreie Intelligenztests wie zum Beispiel den Snijders-Oomen Non-verbalen Intelligenztest (Tellegen, Laros & Petermann, 2007) oder die Coloured Progressive Matrices (Raven, 2002) auszuweichen.
Weiter ist darauf hinzuweisen, dass Leistungstests im Kindesalter grundsätzlich für kontext- und personenbezogene Störeinflüsse anfällig sind. Sowohl ungünstige Umgebungsbedingungen (z.B. Raumgestaltung, Möblierung und akustische Störungen) als auch kindbezogene Variablen wie Motivation, Konzentrationsfähigkeit oder Scheu können die Testleistungen deutlich beeinflussen.

 

Anwendungsbereiche der Entwicklungsdiagnostik

Entwicklungsdiagnostik wird von unterschiedlichen Institutionen erfolgreich durchgeführt. Dabei gehen verschiedene Kontexte häufig mit unterschiedlichen diagnostischen Fragestellungen einher. So unterstützen Entwicklungsscreenings die Vorsorgeuntersuchungen in der kinderärztlichen Praxis und liefern objektive Befunde, um vorliegende Entwicklungsdefizite abzuklären. In Kinderzentren, Frühfördereinrichtungen, ergotherapeutischen oder sprachtherapeutischen Praxen stellen Allgemeine Entwicklungstests einen wichtigen Grundpfeiler der Eingangsdiagnostik im Sinne allgemein-orientierender Diagnostik dar (vgl. Müller, 2003). So gilt es gegebenenfalls, unspezifische Vorbefunde zu objektivieren und weitergehende diagnostische Fragestellungen zu entwickeln. In der kinderpsychologischen Praxis kann zum Beispiel abgeklärt werden (vgl. Pohl, 2003), inwieweit ein Kind Voraussetzungen für bestimmte Interventionsmaßnahmen erfüllt, wodurch der Therapeut gezielt Therapiebausteine auswählen kann.
In der klinischen Praxis wird mit Entwicklungstests auch das Ausmaß der erzielten Veränderungen beurteilt (vgl. Krause, 2003). Entwicklungstests eignen sich in besonderer Weise zur Verlaufskontrolle und zur Evaluation von Interventionsmaßnahmen, da viele Entwicklungstests über die Altersspanne die gleichen Leistungsbereiche durch qualitativ verschiedene Testaufgaben und Untertests abbilden. Auf diese Weise werden Lern- oder Übungseffekte eingeschränkt.

 

Formulierung von Entwicklungsprognosen

Alle Entwicklungstests möchten letztlich Entwicklungsprognosen erstellen. Dabei liefern sie im Allgemeinen einen Leistungsstatus, der lediglich einen Baustein bei der Ableitung von Prognosen darstellen kann. Für gewisse Leistungsbereiche ist es zunächst einmal trivial, auf der Grundlage der Leistungsdaten zu argumentieren: Kinder in den extremen Randbereichen (z.B. weit überdurchschnittlich, weit unterdurchschnittlich) werden, sofern von einer ausreichenden Differenzierungsfähigkeit des Testverfahrens auszugehen ist (Boden-, Deckeneffekt!) auch in absehbarer Zeit ähnliche Leistungen zeigen, ein dreijähriges Kind mit kognitiven Leistungen im Bereich einer mittelgradigen geistigen Behinderung wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch mit sechs Jahren noch geistig behindert sein.
Je weiter sich die Leistungen eines Kindes jedoch dem Durchschnittsbereich annähern, desto schwieriger werden präzise Prognosen. Die Entwicklung von Kindern mit kognitiven Leistungen im Risikobereich wird maßgeblich von kindbezogenen Eigenschaften (vgl. Holtmann & Schmidt, 2004; Holtmann, Poustka & Schmidt, 2004) und seinen Entwicklungsbedingungen beeinflusst. Diese können durch eine systematische Erfassung von Risiko- und Schutzfaktoren (s.a. hier) im Rahmen der Anamnese abgebildet werden. Solche Faktoren beziehen sich hauptsächlich auf den medizinischen, familiär-häuslichen und sozialen Bereich sowie auf das Ausmaß und die Qualität der durchgeführten Fördermaßnahmen. Nur die Integration von Testleistungen und Entwicklungsbedingungen ermöglicht seriöse Vorhersagen zu erwartender Entwicklungsverläufe.

 

Empfehlungen zum Einsatz von Entwicklungstests

Bei der Entscheidung, welcher Entwicklungstest für eine Institution der Richtige ist, muss abgewogen werden,

  • welche (Haupt-) Fragestellungen,
  • für welche Entwicklungsbereiche und
  • für welche klinischen Gruppen,
  • in welchem Altersbereich und
  • unter welchem zeitlichen Aufwand
     

zu bearbeiten sind. Es gilt zunächst, diagnostische Fragestellungen zu formulieren:

  • Wird vorrangig die Abbildung von Defiziten oder die Identifikation von Ressourcen angestrebt und gibt es Testverfahren, die eine dieser Sichtweisen aufgrund ihrer Konstruktionsmerkmale besonders unterstützen? Legen diese Testverfahren eine passende Auswahl von Entwicklungsbereichen vor? Welche Ergebniswerte sollen vorliegen? Werden die Ergebniswerte eher unter Experten kommuniziert oder gilt es, auch für Eltern greifbare Beschreibungsmaße (z.B. Entwicklungsalter) zu gewinnen?
  • Welche Kinder stellen die Haupt-Patientengruppe(n) dar? Werden Kinder über das gesamte Leistungsspektrum oder nur Kinder aus umschriebenen Stichproben (z.B. geistige Behinderung, Autismus) untersucht? Kann ein Entwicklungstest die Leistungen sowohl um den Durchschnittsbereich als auch in den Randbereichen (Boden-, Deckeneffekt) ausreichend differenzieren?
  • Werden Entwicklungsaussagen nur für ausgewählte Altersbereiche (Säuglingsalter, Kleinkindalter, Vorschulalter, Vorsorgeuntersuchungs-intervalle) oder über einen großen Altersbereich angestrebt? Liegen Normen für einen weiten Altersbereich oder für spezifische Altersintervalle vor?
  • Wie groß ist der zur Verfügung stehende zeitliche Rahmen für die Untersuchung? Ist somit nur ein Screening durchführbar oder ist eine differenzierte Entwicklungsdiagnostik möglich? Steht ausreichend Zeit zur Verfügung, um den zu erwartenden Durchführungs-Mehraufwand von 200 bis 300% bei deutlich beeinträchtigten Kindern gegenüber unauffälligen Kindern zu leisten? Lässt ein Testverfahren die Aufteilung der Untersuchung auf mehrere Termine zu?
     

Praktisch alle Entwicklungstests weisen spezifische Stärken und Beschränkungen auf. Die Auswahl eines geeigneten Verfahrens erfordert somit eine Abwägung zwischen verschiedenen Tests im Hinblick auf deren charakteristische Eigenschaften. Zur differenziellen Einschätzung der Testgüte ist dabei häufig der Rückgriff auf Kompendien (Rauchfleisch, 2001; Brähler, Holling, Leutner & Petermann, 2002; Petermann & Macha, 2005b) oder Testbesprechungen in einschlägigen Periodika (z.B. Diagnostica) sinnvoll und notwendig.
Vermutlich werden für die Entwicklungsdiagnostik in naher Zukunft keine einheitlichen Qualitätsstandards vorliegen (vgl. Greenspan & Meisels, 1996). Dies resultiert nicht zuletzt aus der Vielzahl unterschiedlicher Fragestellungen in den möglichen Kontexten. Für die Einschätzung der Güte von Entwicklungstests sind jedoch folgende Eckpfeiler unstrittig:

  • Aktualität von Normen (maximal zehn Jahre alt),
  • angemessene Beschreibung der Normierungsstichprobe, unter Umständen auch Spezifität von Normen (z.B. klinische Normen),
  • Standardisierung wesentlicher Aspekte der Durchführung (wie Materialien und verbaler Instruktionen),
  • Untersuchung der Differenzierungsfähigkeit bei umschriebenen klinischen Stichproben (z.B. genetische Syndrome mit bekannten Entwicklungsabweichungen),
  • Untersuchung kriterienbezogener Validitätsapekte allgemeiner und spezifischer Entwicklungstests sowohl hinsichtlich konvergenter als auch diskriminanter Aspekte und
  • Quantifizierung des differenziellen Einflusses bei vorliegender Sprachgebundenheit einzelner Aufgaben oder Skalen.

 

[überarbeiteter Auszug aus Petermann und Macha, 2005a]

 

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